Ich war ein kleines, dürres und blasses Kind, daß sich häufiger in seinen Traumwelten aufgehalten hat als in der Realität von Schule und elterlichem Bauernhof.
Die Gärten am Nordwall hatten Staketenzäune. Der von Labuddes war grün gestrichen und leuchtete, wenn die Sonne schien. Der Nachbarzaun hatte keine Farbe abbekommen. Ich ging mit Hund Nero in Richtung Nordwall spazieren.
Hob einen Stock vom Wege auf und strich im schnellen Gehen an den Staketen entlang - klack klack klack klack klack – und dann im Rennen Klackckkkkkkkkk.
Die neuen fremden Töne waren Musik in meinen Ohren. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Jedes Klack war mit dem nächsten Klack durch eine kleine Luftlücke zwischen den Stäben verbunden. Der Stock hüpfte darüber hinweg und schnitt durch den Wind. Ein kurzes Luftholen, dann das erneute Klack.
Eine unerklärliche Lust im Bauch, die Wiederholung verlangte.
Einmal kam Herr Manz mit seinem Hund daher. Er blieb stehen und schaute mir solange zu, bis ich bei ihm angekommen war. Respektvoll wartete er, als hätte er die Bedeutung meines Spiels erkannt. Er wollte nicht stören.
Ich fühlte mich ertappt.
Als Herr Manz einfach nur „schön“ sagte und mit dem Hund weiterging, war ich beruhigt und froh. Niemand hatte mich ausgelacht und der Hund machte keine Anstalten … Ich konnte in Ruhe weitermachen.
Herr Manz hatte meine Zaunmusik mit dem Wort „schön“ gesegnet. Und der Hund auf seine Weise ebenfalls.
Meine Instrumente waren nun Staketenzaun und Stöcke vom Wege.
Später an anderen Orten waren es andere Zäune, andere Stöcke – und manchmal waren wir zu zweit beim Musikmachen.
Ich hatte in den späteren Jahren immer das Gefühl, durch mein Leben zu streunen wie ein hungriger russischer Straßenköter auf der Suche nach MEINER Musik.
Jahre später brachte unser Freund Manfred die Musik von Galina Ustwolskaja mit in mein Leben.
Ich konnte mich nicht mehr beruhigen, als ich die ersten Töne gehört habe. Etwas hatte eine Gestalt bekommen. Genauer konnte ich mein Gefühl im ersten Augenblick nicht beschreiben.
Später war mir klar, daß mich die Musik in all meinen Nöten, meinem Ringen um Antworten beschrieb. Das in einer unerhörten Unverblümtheit, Zärtlichkeit, Radikalität. Mit heftigen Schlagen, Rütteln, Schreien, dumpfen Schweigen malte sie ein Bild von mir. Schläge auf einen Holzwürfel, Auseinanderreißen der Tasten am Klavier, Paukenschläge – und das vertraute Klack Klack Klack ganz langsam und klackkkkkkkkkk ganz schnell.
Die Musik Galina Ustwolskajas hat Türen zu meinen Räumen geöffnet, die bisher verschlossen waren.
Dann begann die Suche nach Ustwolskaja-Konzerten. Ich war wie besessen.
und lernte den Sikorski Musikverlag kennen. Galina, wie ich Galina Ustwolskaja inzwischen in Gedanken nannte, hatte dort ihre verlegerische Heimat gefunden.
Inzwischen wußte ich, daß Galina Ustwolskaja Lieblingsschülerin von Dimitri Schostakowitsch war. Er hat sie um ihren Rat gebeten.
Die Besessenheit hält an.
Der Verlag informierte mich über eine Arbeitswoche zu Ustwolskaja an der Musikhochschule Zürich.
Ich war dabei.
Eine Musikwissenschaftlerin aus Holland zeigte eine Dokumentation über Leben und Arbeiten der Komponistin in einer Plattenbausiedlung in Sankt Petersburg. Ihr Leben ist karg und kompromißlos wie ihre Musik. Fast widerwillig stellt sie sich der Kamera. Ihre Aussagen drehen sich allein um die Arbeit. Klarheit und Direktheit bestimmen Leben und Werk.
Das Konzert in der Musikhochschule läßt mich erneut in die Kniee gehen.
In Darmstadt gibt es die Komposition Nr.2 für 8 Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier „Dies irae“. Manfred, Dietrich und ich hören das Konzert.
Der Hunger nimmt kein Ende.
Übrig bleibt das Kind, das mit dem Stock vom Wege den Staketenzaun abklappert, mal ganz langsam, mal ganz schnell, dann stehenbleibt.
Das Kind, das nicht mehr befürchtet, ausgelacht zu werden. Denn Herr Manz hat „schön“ gesagt und der Hund hat nicht gebissen.
=Paradiese=
Das Zimmer. Das Bett mit weißer Bettwäsche. Die Tür zum Garten mit alten Obstbäumen, ein lauer Sommerwind.
Der Stuhl. Draußen ein Bild eines Berges, einer Seebrücke, eines Königs.
Das Tal. Ich gehe. Hier finde ich alles, was verloren ging, wieder.
Ad hoc verband ich mit dem Begriff PARADIES freudige Glückseligkeit, verbunden mit biblischen Bildern, von berühmten Malern zitiert.
Und nach kurzer Zeit erster Verschriftlichung meiner Gedanken, öffnete sich ein schier unendlicher Raum und es wurde komplex.
Für mich ist P. eine Art Zustand mit optimalen Bedingungen für ein Leben in Frieden, Sorglosigkeit, Freiheit und Seelenheil. Ich denke an schöne Erlebnisse, ein freies Gefühl inmitten herrlicher Natur, federleicht, unbeschwert, zufrieden und glücklich.
Meine Erfahrungen verbinden positive Erlebnisse mit paradiesischen Zuständen und erzeugen Vorstellungen, wie ein Paradies auszusehen hat.
Aber Achtung: Dieses Paradies ist flüchtig und nicht von Dauer.
Paradies bedeutet für mich die Erde selbst, als Basis und real physisch präsente Materie. Hier gibt es alles, was für unsere Existenz nötig ist.
Die gesamten Mensch- bzw. Tier und Pflanzenwelt beseelen die Erde. Wir sind Statisten und Akteure in unserem Paradies.
Menschen anderer Regionen der Erde, sehen das womöglich ganz anders.
Ich wurde nicht getauft, konfirmiert, gehöre keiner Religion an und wurde dennoch, wie die meisten Europäer, historisch christlich geprägt.
Ich wurde in eine friedliche Welt hineingeboren und durfte geborgen in ihr aufwachsen. Ein Glück, was nicht jedem Mensch widerfährt.
Mitteleuropäer leben seit geraumer Zeit in Frieden und Wohlstand.
Ein Zustand welchen Andere als paradisisch bezeichnen.
Dennoch sind viele Menschen hier nicht glücklich.
Durch die wichtigste religiöse Textsammlung (Bibel) wird das Paradies für die Menschen „verbildlicht“. In meinen Augen ein Versuch ein menschliches Miteinander zu organisieren, zu regeln und Orientierung zu geben.
Seither entwickelt sich unser Zusammenleben und wird von Erkenntnissen gespeist. Sie sind Teil unserer heutigen Vorstellung von Zivilgesellschaft.
Das Paradies wird individuell interpretiert und verstanden und berichtet von der Vorstellung eines im Moment erstrebenswerten Zustands.
Und doch gibt es einen Konsens, der einhergeht mit Ruhe, Harmonie, Zufriedenheit, Weite, Natur, Helligkeit, Sorglosigkeit und Frieden.
Die Erstrebung des Paradies als Ganzes sollte also als gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, in der sich Menschen gemeinsam den Unebenheiten widmen und „korrigieren“.
Damit müsste die Fähigkeit altruistischen Denkens an Aktualität gewinnen und erstrebenswert gelten. Sehr spannend, doch an dieser Stelle möchte ich meine Ausführung beenden, denn nun wird ein weiteres Thema eröffnet und würde hier zu weit führen.
Es hat sich sehr gelohnt über PARADIES nachzudenken.
Vielen Dank für den tollen Impuls!
3lke Bergerin
Dieburg im Januar 2021